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Das globale Feindbild

Das globale Feindbild

Muslime werden in vielen Teilen der Welt gefürchtet, aber auch diskriminiert. Wer zu einem ausgewogenen Urteil kommen will, muss sich zunächst mit ihrer Religion beschäftigen.

Das Bild ging durch alle Zeitungen und Medien — auch international. Ein paar Dutzend Muslime beteten vor dem Brandenburger Tor — auf ausgebreiteten Teppichen, ihre charakteristische Niederwerfung ausführend. Die Kommentare dazu waren überwiegend negativ. Von einer „Machtdemonstration“ war die Rede. Migrationskritiker fühlten sich in ihrer Meinung bestätigt, der Islam sei dabei, Deutschland zu „übernehmen“.

Einige Monate später ging die Nachricht über die Gründung einer neuen islamischen Partei, „Dava“ genannt, über alle Sender. Ein Ableger von Erdogans AKP, so hieß es. Befürchtungen wurden laut, der autoritäre türkische Präsident könnte mit Hilfe der in Deutschland lebenden Türken auf die hiesige Politik Einfluss nehmen. Einige der Dava-Gründungsmitglieder hätten während des türkischen Wahlkampfs 2023 unter Deutschtürken massiv für Erdogan getrommelt.

Aber selbst wenn wir von einer „Fernsteuerung“ der noch jungen Partei nicht ausgehen müssten — wäre ein Erfolg der Dava nicht ein Affront gegen unsere abendländische Identität? Wie Minarette in deutschen Städten, welche die gewohnten Kirchtürme vorwitzig überragen, oder die Weigerung türkischer Väter, ihre Töchter zum Schwimmunterricht anzumelden?

Wer sich für Literatur interessiert, fühlt sich durch dieses Szenario vielleicht an Michel Houellebecqs Skandalroman „Unterwerfung“ erinnert. In diesem dystopischen Werk nehmen Muslime im Frankreich der nahen Zukunft derart überhand, dass eine islamische Partei bei einer Präsidentenwahl antreten kann und schließlich das Staatsoberhaupt stellt.

Pikanterweise sind die drei dominanten Parteien im Roman eine linksliberale, eine rechte nach dem Vorbild der „Front National“, und eben die Islam-Partei. Die Linksliberalen paktieren lieber noch mit den Muslimen als mit den „Nazis“. In der Folge wird das Land komplett islamisiert. Professoren verlieren ihre Stellung an den Universitäten, wenn sie nicht zum Islam übertreten — ein Schicksal, das heute in Deutschland eher Ungeimpften oder unabhängig Denkenden drohen könnte. Der Held des Romans fügt sich schließlich in sein Schicksal, als ihm die Ehe mit mehreren jungen Frauen in Aussicht gestellt wird. Ob dieser Roman „die Wahrheit“ vorwegnimmt, ist Ansichtssache. Sicher ist, dass die Geisteshaltung der Unterwerfungsbereitschaft bei den Normalbürgern darin treffend porträtiert wird.

Muslime — die perfekten Filmbösewichte

Sind das alles nur Hirngespinste von „Rechten“, jener beklagenswerten Gruppierung also, die derzeit — wie wir aus den Medien erfahren — „ganz Berlin“ oder gar ganz Deutschland hasst? Islamkritische Filme erfreuen sich seit Jahrzehnten im Westen großer Beliebtheit, etwa der Klassiker „Nicht ohne meine Tochter“ von Betty Mahmoody, der von der Flucht einer westlichen Frau vor ihrem prügelnden Macho-Mann im Iran handelt.

Ähnlich gelagert die spannende Selbstmord-Attentäter-Serie „Kalifat“. Oder auch der bewegende Film „Das Mädchen Wajda“, dessen Titelheldin sich sehnlichst ein Fahrrad wünscht — in Saudi-Arabien verboten. Ein Film, der hervorsticht, weil seine Regisseurin Haifaa Al Mansour tatsächlich aus Saudi-Arabien stammt, wo nicht allzu viele Frauen in ihrem Beruf arbeiten können. All diese in den Filmen thematisierten Probleme sind sicher nicht aus der Luft gegriffen. Oft aber ist in westlichen Produktionen die Absicht negativer Stimmungsmache zu spüren.

In einem Fernsehfilm über einen jungen Attentäter in Deutschland raunen die versammelten Muslime ihre Gebete, was so bedrohlich inszeniert wurde wie die Beschwörungsformeln in einem Satanismus-Thriller. Was die Betenden in arabische Sprache sagten, konnte ich aber verstehen: „Kommt zum Gebet! Kommt zum Heil!“ Man muss nicht daran glauben, aber wirklich böse ist das nicht.

Wer sich in Deutschland als Schauspieler mit türkischem oder arabischem Hintergrund einen Namen gemacht hat, bekommt eigentlich fast nur solche Rollen: Ein Selbstmordattentat-Thriller. Ein Zwangsverheiratungs-Thriller. Ein Ehrenmord-Thriller. Sibel Kekilli oder Aylin Tezel könnten ein Lied davon singen. Keineswegs will ich leugnen, dass es all diese Phänomene im islamischen Kulturkreis gibt. Ich will nur um Vorsicht und Differenzierung bitten.

Ist der Islam eine faschistische Ideologie?

Unter Islamkritikern ist umstritten, ob nur bestimmte „Auswüchse“, also fundamentalistische und gewalttätige Extreme, innerhalb der islamischen Welt verdammenswert seien, oder ob der Keim des Problems schon in den Glaubensgrundlagen dieser Religion läge.

Letztere These vertritt dezidiert Hamed Abdel-Samad, ein aus Ägypten stammender Islamwissenschaftler, der zu den profiliertesten Kritikern seiner Ursprungsreligion in Deutschland gehört. Auf die Spitze treibt Abdel-Samad seine These in dem Buch „Der islamische Faschismus“. 2013 hielt der Autor in Kairo einen Vortrag, der einen Mordaufruf gegen seine Person zur Folge hatte. Seither lebt er unter Polizeischutz. Der Grund für die Aufregung:

„Ich vertrat darin die These, dass faschistoides Gedankengut nicht erst mit dem Aufstieg der Muslimbrüder Eingang in den Islam gefunden habe, sondern bereits in der Urgeschichte des Islam begründet sei.“

Es lohnt, sich mit den Thesen Abdel-Samads auseinanderzusetzen, weil man nach der Lektüre eines seiner Bücher nicht mehr im Zustand einer naiven „Xenophilie“ verharrt, wie sie vor allem im linken und grünen Milieu verbreitet ist. Vieles in seinem Buch muss jedoch auch relativiert oder ergänzt werden. Hamed Abdel-Samad erzählt vor allem die Geschichte des politischen Islam, der ungefähr zeitgleich mit dem europäischen Faschismus — etwa in Deutschland oder Italien — entstanden ist. Seine Exponenten, etwa der Gründer der Muslimbrüderschaft Hassan Al-Banna, seien sogar erklärte Anhänger Adolf Hitlers gewesen. Der Autor suggeriert damit, dass nicht „Islamophobe“ Gefahr liefen, den Naziideologien verdächtig nahe zu kommen, sondern die Verteidiger und Verharmloser des radikalen Islam, welcher innerhalb der Religionsgemeinschaft keineswegs eine Minderheitenposition darstelle.

Wie kann man Faschismus und Islam über einen Kamm scheren? Hierzu begibt sich Abdel-Samad auf eine höhere Abstraktionsebene. Der Faschismus sei eine „Art ‚politische Religion‘. Seine Anhänger glauben im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein.“ Und weiter: „Die faschistische Ideologie vergiftet ihre Anhänger mit Ressentiments und Hass, teilt die Welt in Freund und Feind ein und droht Gegnern mit Vergeltung.“ Alles das tue der Islamismus auch. Auch sozioökonomische Gründe für das Aufkommen beider Ideologien werden analysiert. „Sowohl der Faschismus als auch der Islamismus sind aus einem Gefühl der Niederlage und Erniedrigung hervorgegangen.“

Im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts bewirkte dies zum Beispiel der Versailler Vertrag, in muslimischen Ländern vor allem die Unterdrückung durch westliche Kolonialmächte. Und: „Beide Strömungen eint das Ziel, ein Imperium zu errichten.“ Die eine Weltanschauung glaube an die Überlegenheit der „arischen Rasse“, die andere an die „moralische Überlegenheit der Muslime gegenüber dem ungläubigen Rest der Menschheit“.

Gott als Himmelsdiktator

Auch im praktischen Vollzug der Gewaltherrschaft ähnelten sich Faschismus und Islamismus Abdel-Samad zufolge.

„Da, wo Faschisten, Kommunisten oder Islamisten die Macht übernahmen, verwandelten sich die Gesellschaften in Freiluftgefängnisse, deren ‚Insassen‘ — die Bürger — ständig überwacht wurden.“

Ein gesellschaftlicher Konsens werde „durch Gewalt und Einschüchterung künstlich erzwungen“. Letztlich handele es sich in beiden Fällen um gescheiterte Projekte von Zu-kurz-Gekommenen voller Ressentiments, die nicht einsehen wollten, dass es ihnen nicht gelungen war, eine attraktive Alternative zu den westlichen Demokratien zu kreieren. Ein hohes Maß an Identifikation mit westlichen Werten, sogar mit seiner deutschen Wahlheimat, ist im Werk Abdel-Samads festzustellen.

Hier sind aber schon einige Einwände angebracht. So zieht der Autor etwa die Geschichte der Opferung Isaaks durch Abraham auf Befehl Gottes — eine Ur-Erzählung der jüdischen Religion — heran, um zu zeigen, dass „blinder Gehorsam“ gerade für monotheistische Religionen kennzeichnend sei. Abraham sei „bereit, die Befehle Gottes, seines ‚Führers‘, auszuführen“. Womit die höchste Autorität der Gläubigen bereits assoziativ in die Nähe Adolf Hitlers gerückt wird.

Gott erscheint als ein der National Security Agency ähnlicher Bespitzelungsapparat, „der uns vierundzwanzig Stunden am Tag beobachtet, der unsere Gedanken und Träume kennt, der unser Leben mit Geboten und Verboten kontrolliert und uns bei Verfehlungen mit Höllenqualen bestraft“. Die religiöse Diktatur sei somit Vorbild für alle anderen Diktaturen.

Dies klingt auf den ersten Blick plausibel, impliziert aber auch, dass man eigentlich gar nicht religiös sein dürfe, will man sich nicht dem Verdacht aussetzen, quasi Mitläufer eines gigantischen kosmischen Totalitarismus zu sein. Wer an Gott glaubt, nimmt normalerweise an, dass dessen Vorgaben verbindlich sind. Dass sich hierbei die Frage stellt, wer den „Willen Gottes“ so genau kennen kann, und dass mit dergleichen viel Schindluder getrieben wurde, versteht sich von selbst. Es ist aber schwierig, mit einem Blick, der durch moderne Ideologiekritik nach Auschwitz geschult ist, auf eine Religion zu schauen, die vor rund 1.400 Jahren, in vordemokratischen und voraufklärerischen Zeiten entstanden ist — oder im Fall der abrahamitischen Religionsgründung sogar vor rund 4.000 Jahren.

Geburtsstunde des religiösen Fanatismus?

Es ist interessant, Hamed Abdel-Samads kurzer Geschichte des Islamismus zu folgen, speziell dem Hinweis auf vielfache Berührungspunkte zwischen dem Nationalsozialismus und der ungefähr gleichzeitig gegründeten Muslim-Bruderschaft. Letztere wurde dann zur Keimzelle vieler weiterer fundamentalistischen Strömungen wie den Wahabiten — der jetzt herrschenden Richtung in Saudi-Arabien —, der Al-Quaida oder den Salafisten, die weiterhin auch in Deutschland aktiv sind.

Spätfolgen dieses islamistischen Impulses findet man sogar noch bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung im „Heiligen Land“, in der Ideologie der Hisbollah und der Hamas. Wir dürfen keineswegs übersehen, dass deren weltanschauliche Stoßrichtung zutiefst antisemitisch ist. Betrachtet man den Faschismus-Vorwurf jedoch näher, so drängt sich der Eindruck auf, dass eine gewisse Fixierung auf die deutsche Schulderfahrung im Nationalsozialismus hier den Blick in eine bestimmte Richtung gelenkt hat.

Ebenso gut — und dies wäre wohl historisch passender — wäre ein Vergleich zwischen Islamismus und Monarchie möglich — ausgedrückt etwa in der ersten Sure des Korans mit dem Begriff „König des Jüngsten Gerichts“ (Sure 1, 4). Auch ein König forderte Gehorsam, bestrafte Abweichler, überwachte und gängelte seine Untertanen. Der Begriff „Islamischer Faschismus“ klang aber wohl griffiger.

Interessant und sicher nicht falsch ist Hamed Abdel-Samads Hinweis, Mekka sei vor der Mission Mohammeds ein polytheistisches Zentrum gewesen. Erst der „Fanatismus“ des Propheten habe alle anderen Gottheiten aus der Kaaba vertrieben. Eine Intoleranz, die bis in heutige Tage bei Muslimen spürbar sei, sei geboren worden. Hierzu muss man aber mindestens zweierlei sagen: Erstens verhielt sich das in der Geschichte des Christentums nicht viel anders. So fällten frühe Missionare etwa Bäume, die in Naturreligionen als heilig galten.

Zweitens stellte der Glaube an den einen, alles durchdringenden Gott — „Allah ist einer, Allah ist absolut“ heißt es in der Sure „Al Ikhlas“ (112, 1) — einen wohl unvermeidlichen geistesgeschichtlichen Schritt dar. Kaum jemand wird heute noch ernsthaft an die heidnischen Gottheiten glauben, die Mohammed mit seiner Reform quasi vom Tisch fegte; oder er wird sie als Facetten des „Einen und Einzigen“ interpretieren.

Dem Geheimnis auf der Spur

Interpretationen des Islam als „Herrschaftssystem“ oder gar „Diktatur“ haben einige Argumente für sich, vor allem wenn man von den Verhaltensweisen von Muslimen in Geschichte und Gegenwart gerade die Schlimmsten herausgreift.

Ohne Berücksichtigung des spirituellen, ja mystischen Kerns werden uns aber viele Glaubensvorstellungen und Verhaltensweisen von Muslimen ohnehin unverständlich bleiben — was im Übrigen aber auch für andere Religionen gilt. Wir sehen dann nur sich verbeugende Körper, Gebetsformeln brabbelnde Münder, wutverzerrte Gesichter, die vor Gewalttaten „Gott ist groß!“ ausstoßen. Wir sehen nicht den inneren Menschen, der sich von etwas Größerem ergriffen fühlt. Wir verfehlen das Geheimnis.

Dies beginnt schon beim Phänomen das Korans, der ein poetisches Meisterwerk höchsten Ranges ist, in klangvoller, gereimter Sprache. Bewunderung ist angebracht, selbst wenn man inhaltlich auf Distanz bleiben will.

Wie konnte Mohammed als wenig gebildeter Mensch aus einem Nomadenstamm dies ganz allein geschrieben haben — ein Mann, der als Schafhirte und Kaufmann gearbeitet hatte, ohne „schöngeistige“ Bildung. Es ist verständlich, dass viele den Koran als das Ergebnis von „Channeling“ betrachten. Mohammed wäre demnach nicht so sehr der „Autor“ gewesen, sondern ein „Kanal“, durch den Botschaften aus einer wie auch immer zu definierenden geistigen Weltflossen.

Neben diesem Geheimnis ist da noch das Phänomen von Mohammeds Überzeugungskraft. Nicht die gesamte Ausbreitungsgeschichte des Islam ist durch Zwangsbekehrungen erklärlich, auch wenn es davon aus der Perspektive pazifistischer Nachgeborener sicher zu viele gegeben hat. Der Prophet muss für Zeitgenossen etwas ungemein „Gewinnendes“ gehabt haben. Weiter sind über die Jahrhunderte ungezählte Berichte über Erleuchtungserfahrungen bekannt geworden — Gotteserfahrungen, wie sie von den Betroffenen in der Regel empfunden wurden. War all dies nur Wahn, die Folge eines durch patrouillierende Moralhüter erzwungenen Glaubensgehorsams?

Der Islam hat neben für uns schwer verständlichen, gewalttätig und intolerant anmutenden Elementen auch solche, die Geborgenheit, Trost und Halt zu geben vermögen, die Herzöffnung zu bewirken scheinen. „Ich nehme meine Zuflucht beim Herrn der Morgenröte“ (Sure 113, 1) heißt es. Oder: „Wo Beschwernis ist, ist auch Erleichterung“ (Sure 94, 6). Für viele, die grundsätzlich einen Zugang zu Religion(en) haben, besitzt er eine gewisse Plausibilität sowie Praxistauglichkeit.

Gegengewicht zum herrschenden Materialismus

  • Der Islam ist gekennzeichnet durch die Annahme einer geistigen Welt, die der materiellen zugrunde liege und aus der sie hervorgegangen sei. Wir haben hier also ein deutliches Gegengewicht zu einseitigem Materialismus, zu Transhumanismus und Verwandtem vor uns, das in unserer Zeit mindestens interessant ist und zum Teil erklärt, warum der Islam in „vernünftigen“ westlichen Kreisen vielfach zum Feindbild erkoren wurde.
  • Wir haben es mit einem kompromisslosen Ein-Gott-Glauben zu tun, der jedoch pantheistische Züge trägt. Gott ist demnach in jedem und in allem gegenwärtig. Damit sind nicht nur bunte und für die meisten modernen Menschen unglaubwürdige Fantasiegötter „draußen“; auch die christliche Trinitätslehre wird abgelehnt. Gott ist einer, nicht drei. Damit gibt es im Islam auch keine Vergöttlichung des Religionsgründers, wie sich diese in dem Bibelzitat „Der Vater und ich sind eins“ ausdrückt. Allerdings wird Mohammed in der muslimischen Tradition als praktisch unfehlbar idealisiert.
  • Christliche und auch jüdische Traditionen sind in die Religion integriert. Jesus gilt, wie Abraham und Moses, als Prophet. Allerdings ist die Haltung des Korans gegenüber Christen wie Juden widersprüchlich. Es gibt tolerante und würdigende, ebenso wie aggressiv wirkende Zitate.
  • Der Islam kennt nicht den Begriff der Erbsünde und verzichtet auf die Abwertung der materiellen Welt, speziell auch der Sinnlichkeit, wie sie im christlichen Abendland über lange Zeit üblich war. Es ist daher strittig, ob das Sittenwächter-Gebaren in vielen modernen islamischen „Gottesstaaten“ überhaupt mit dem ursprünglichen Geist der Religion vereinbar ist.
  • Es gibt eine ausgeprägte lebenspraktische Ausrichtung. Das Fasten ist in seiner gesundheitsfördernden Wirkung auch außerhalb der islamischen Welt anerkannt. Daneben gibt es ein System islamischer Medizin und Ernährung, ein Konzept des „Islamic Banking“, das beachtenswert ist, und vieles mehr. Die Aufforderung, den Armen zu spenden, war der Versuch, ein funktionierendes Sozialsystem auf freiwilliger Basis zu etablieren. Das Gebet soll das innere Leben der Menschen stärken und ist zugleich gesellschaftlich verbindendes Element, wenn es öffentlich erfolgt.
  • Zu den bekanntesten Elementen gehört eine ausgeprägte Wertschätzung der Familie, deren Schattenseite allerdings eine Art Tyrannei der Familie sein kann: die Dominanz des „Clans“ über jeden Lebensbereich seiner Angehörigen, bis hinein in Privates (etwa die Heirat).
  • Viele Elemente ähneln dem Christentum. Etwa das Konzept der Vergebung und Barmherzigkeit, ausgedrückt schon in der „Bismillah-Formel“ — „Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Allerbarmers“ —, das jede Sure einleitet.

Licht- und Schattenseiten

Fazit: Ein Best-of des Islam könnte einen ebenso günstigen Eindruck hinterlassen, wie ein Worst-of einen schlechten hervorruft. Es ist alles — oder sehr vieles — da, was sich religiöse Menschen wünschen können. Nur haben die aus unserer westlichen Sicht negativen Strömungen im Islam derzeit zu viel Macht in vielen Ländern. Ob dies im „Wesen“, also schon in den Wurzeln dieser Religion begründet liegt oder eher das Ergebnis ungünstiger historischer Entwicklungen ist; ob Menschen gewalttätig und intolerant handeln, weil sie Muslime sind, oder ob andersherum Gewalt entsteht, weil (auch) Muslime Menschen sind — hierzu gibt es sehr verschiedene Ansichten.

Vielleicht wirkt eine Religion mit derart gemischter Bilanz für Menschen, die nicht mit ihr aufgewachsen sind, nicht so anziehend, dass sie sich dieser anschließen würden; jedoch können wir respektieren, dass andere so empfinden. Der Prägung durch in unserer jeweiligen Heimat herrschende Paradigmen unterliegen wir ja alle.

Ohne die Schattenseiten der islamischen Kultur leugnen zu wollen, halte ich es für wichtig, seine positiven Aspekte zu kennen. Wer sein Islam-Wissen ausschließlich aus Videos mit Julian Reichelt und Fürstin Gloria von Thurn und Taxis zieht, wird — um es vorsichtig auszudrücken — etwas einseitig informiert sein. So gibt es im Koran den Aufruf zur Toleranz gegenüber anderen monotheistischen Religionen:

„All denen — seien es Gläubige, Juden, Christen oder Sabäer —, wenn sie nur an Gott glauben, an den Jüngsten Tag und das Rechte tun, wird einst Lohn von ihrem Herrn, und weder Furcht noch Traurigkeit wird über sie kommen“ (Sure 2, 63).

Interessant ist auch die folgende Stelle, in der sich der Prophet gegen leeren Formalismus wendet und auf die wahren Werte hinweist:

„Die Gerechtigkeit besteht nicht darin, dass ihr das Antlitz (beim Gebet) nach Ost oder West richtet, sondern jener ist gerecht, der an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und an die Engel und an die Schrift und die Propheten; der voll Liebe von seinem Vermögen gibt: den Verwandten, Waisen und Armen und den Pilgern, überhaupt jedem, der darum bittet; der Gefangene löst, das Gebet verrichtet, Almosen spendet; der an geschlossenen Verträgen festhält; der geduldig Not und Unglück und standhaft die Schrecken des Krieges erträgt. Dieser ist gerecht“ (Sure 2, 178).

Verpasste Aufklärung?

Immer wieder wird dem Islam vorgeworfen, er habe es versäumt, durch ein Zeitalter der Aufklärung hindurchzugehen. Dieser Gedanke ist aus westlicher Sicht naheliegend, fehlt es doch an einer historisch-kritischen Betrachtungsweise der Glaubensüberlieferung und an weltanschaulichem Pluralismus.

Andererseits erscheint die Forderung, das „Morgenland“ hätte sich analog zum „Abendland“ entwickeln müssen, hinke also diesbezüglich hinterher, als ein ganz typischer Fall westlicher Überheblichkeit.

Der Sufismus etwa hat eine Art von Aufklärung hervorgebracht, die sich innerhalb eines religiösen Weltbilds bewegt, diesem also nicht grundsätzlich widerspricht, jedoch zu sehr weit gehender Toleranz führt. Die islamische Mystik nämlich kennt einen Gottesbegriff von großer Weite. Die engherzige Vorstellung eines wegen jeder Kleinigkeit beleidigten Himmels-Erbsenzählers hat darin keinen Platz.

Zu wenig bekannt sind Koran-Passagen wie diese, die in ihrer Weisheit an Lessings „Nathan der Weise“ erinnert: „Wenn es nur Allah gewollt hätte, so hätte er euch allen nur einen Glauben gegeben; so aber will er euch in dem prüfen, was euch zuteilgeworden ist. Wetteifert daher in guten Werken“ (Sure 5, 49). Oder auch: „Es soll kein Zwang sein im Glauben“ (Sure 2, 256). So irritierend manche Passagen aus dem Koran auch sind — zum Beispiel „Tötet die Ungläubigen, wo ihr sie findet“ (Sure 9,5) —, weisen Sufis darauf hin, dass jede Stelle verschieden ausgelegt werden kann. Neben der buchstäblichen Bedeutung gibt es allegorische und mystische Interpretationen. So weisen kriegerische Passagen oft darauf hin, dass der Gläubige den Unglauben in sich selbst bekämpfen solle. Oder sie sind aus der — leider ja nicht gewaltfreien — Lebensgeschichte des Propheten heraus zu verstehen.

Es ist klar, dass nicht alle Stellen im Koran „lieb“ sind. Dass diese aber im islamischen Buch der Bücher enthalten sind, ist eine Anregung für Nicht-Muslime, diese guten Seiten wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Zugleich liegt darin eine Frage an intolerante Muslime, warum sie diese Denk- und Verhaltensweisen nicht übernehmen, obwohl es dafür in ihrem heiligen Buch eine Grundlage gäbe.

Zwei problematische Entscheidungen Mohammeds

Als „Weiterentwicklung“ des Christentums hat der Islam — was aus meiner Sicht bedauerlich ist — den Aspekt des Gewaltverbots und der Feindesliebe weniger stark betont. Mohammed hat auf seinem Lebensweg zwei Entscheidungen getroffen, die sich im Ergebnis als problematisch erwiesen haben:

  1. Er betrachtete Gewalt als Form der Gegenwehr als erlaubt und gottgefällig. Im Vergleich zum Christentum kann man also vereinfachend sagen: Mohammed ließ sich nicht als „Lamm Gottes“ kreuzigen, sondern wollte, wo er sich angegriffen fühlte, seine Kriege auch gewinnen. Diese Haltung führte in der weiteren Ausbreitungsgeschichte des Islam — etwa unter dem Kalifen Omar — zu einer Reihe gewalttätiger Auseinandersetzungen, die nicht alle nur als Verteidigungskriege beschönigt werden können.
  2. Die Vermischung der Religion mit dem Staatswesen führte zum Konzept des „Gottesstaats“, dem Mohammed und seine Nachfolger als zugleich weltliche und geistliche Oberhäupter vorstanden. Wo Gottesstaaten wie im Iran zur vollen „Blüte“ gekommen sind, funktionieren sie nach religiösen Regeln, denen sich auch — falls sie nicht ohnehin diskriminiert werden — nicht-religiöse Menschen und Andersgläubige zu unterwerfen haben.

Aus dem Koran kann man — ähnlich übrigens wie aus der Bibel — eine These ebenso wie ihr Gegenteil „beweisen“. Jesus wird das Wort zugeschrieben: „Nein, ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Man kann diesem Spruch jetzt eine symbolische Bedeutung zuschreiben, etwa: „Meine Botschaft wird unvermeidlicherweise Konflikte in die Familien tragen.“ Oder man kann sich ein physisches Schwert nehmen und Nicht-Christen den Kopf abschlagen. Bezüglich des Islams schrieb der Sufi-Lehrer André Ahmed Al Habib in seinem Buch „Sufismus“ folgendes:

„‚Dunkle‘ Charaktere lesen im Koran eine Aufforderung zu Engstirnigkeit und Fanatismus, wohingegen ‚helle’ Charaktere im Koran eine Aufforderung zu Toleranz, zu aktiver Gottes- und Nächstenliebe sowie zur unmittelbaren Erkenntnis der Schöpfung und des höchsten Seins erkennen. (…) Jeder finde im Koran genau das, was er zu finden bestrebt sei.“

Der Mensch ist das Problem

Haben wir es also nun mit einer „dunklen“ Religion zu tun oder nur mit zu vielen „dunklen Charakteren“? Der Schweizer Johannes Calvin errichtete im Genf des 16. Jahrhunderts eine wahre Schreckensherrschaft, einen Gottesstaat, der die Menschen bis in die kleinsten alltäglichen Verrichtungen und bis in ihr Seeleninnerstes hinein drangsalierte. Während des Dreißigjährigen Kriegs galt in den deutschsprachigen Ländern weithin der Grundsatz „Cuis Regio eius religio“ — übersetzt heißt das sinngemäß: „Wer das Land kontrolliert, bestimmt auch über die Religion jedes einzelnen Bewohners.“ Wie in so vielen Fällen sollte man also mit abendländischen Überlegenheitsgefühlen vorsichtig sein.

Zu Ungunsten des Islam könnte man anführen, dass die von ihm dominierten Länder eine derartige Denkweise vielfach noch nicht überwunden haben. Andererseits: Keiner der Kulturkreise, die die Menschheitsgeschichte maßgeblich bestimmten, war in der Summe gewalttätiger als der christliche. Die Gewalttaten wurden nur — zumindest in den letzten Jahrhunderten — meist nicht christlich „geframt“. Die Kriege der NATO mögen keine Kreuzzüge gewesen sein, eher neokolonialistische Feldzüge für globale Dominanz, Land und Rohstoffe, unterfüttert durch ein angemaßtes Überlegenheitsgefühl.

Es ist eine bleibende Schande unserer Hemisphäre, dass die über Jahrhunderte wirksame christliche Prägung so gar nichts bewirkt zu haben scheint in puncto Nächstenliebe und Gewaltvermeidung.

Dies ist unter anderem für Eugen Drewermann eine schmerzliche Erkenntnis.

Zusammenfassend kann man sagen: Wenn der Religionsstifter — wie im Fall Mohammeds — während seiner Lebenszeit Kriege führte und Gewalt auch ideologisch rechtfertigte, töten seine Nachfolger. Wenn der Religionsstifter dagegen wie Jesus friedlich war und Gewalt — selbst zum Zweck der Gegenwehr — explizit abgelehnt hat, töten seine Nachfolger auch. Menschen töten auf Grund von Sadismus, aus Berechnung, im Machtrausch oder auf Grund einer die Seele aushöhlenden Gehorsamsdressur. So gut wie alle Religionen haben das Töten schöntönend verbrämt.

Atheistische Ideologien wie jene der Kommunistischen Partei Chinas tun dies auch. Von unzähligen höchst unterschiedlichen möglichen Richtungen, die eine Weltanschauung nehmen kann, setzt sich oft die brutalste durch. Es mag sein, dass weniger mit Muslimen „etwas nicht stimmt“ als mit der menschlichen Spezies als solcher. Dennoch gibt es Schönheit, gibt es Liebe, gibt es selbstloses Handeln, gibt es Erfahrungen der friedvollen Ergriffenheit und der Allverbundenheit, wie sie vor allem spirituelle Wege schenken können.

Die Fanatisierungsursachen bekämpfen

Muslime eignen sich als Sündenböcke und Schattenträger, nicht nur in westlichen „Demokratien“. Schlimmerweise bilden Muslime in so verschiedenen Ländern wie Israel (Palästinenser) und China (Uiguren) gedemütigte Minderheiten, während die USA ihre Länder scheinbar nach Belieben mit Krieg überziehen. Aus naheliegenden Gründen gehören Muslime immer zu den zahlenmäßig größten Gruppen bei Migrationsbewegungen. Dies hängt auch mit der meist desolaten Menschenrechtssituation in diesen Ländern zusammen, die meist auch wirtschaftlich nicht gut aufgestellt sind.

Muslime bilden also an vielen Orten eine potente, obwohl sozial meist unterprivilegierte Minderheit. Sie geben ihre Religion häufig ungefiltert an ihre Nachkommen weiter. Ein Religionswechsel oder ein „Austritt“ aus den islamischen Communities kommt weitaus seltener vor als in christlich geprägten Milieus.

Gerade aus Sicht von durch aufgeklärtes Christentum, Atheismus, Agnostizismus oder Patchwork-Spiritualität geprägten Deutschen erscheinen Muslime oft „fanatisch“ oder „fundamentalistisch“, selbst wenn sie einfach nur ohne Wenn und Aber gläubig sind. Richtig ist natürlich, dass es sich im Gegensatz zum Judentum um eine eher missionarische Religion handelt, die sehr gern ansteckend wirkt. Wo nötig, müssen Grenzen gesetzt werden.

Ähnlich wie beim Thema „Fluchtursachen bekämpfen“, ist es auf internationaler Ebene wichtig, die Fanatisierungsursachen in muslimisch geprägten Ländern zu bekämpfen, soweit westlichen Ländern dies möglich ist. Das bedeutet, in diesen Ländern nicht Kriege anzuheizen, sie nicht auszuplündern, keine Diktatoren zu unterstützen, die dann im zweiten Schritt islamisch-fundamentalistische Revolten provozieren. Es bedeutet vor allem, auf jeden Rest kolonialistischer Übergriffigkeit zu verzichten.

Auf das Für und Wider einer liberalen Einwanderungspolitik kann ich in diesem Rahmen nicht eingehen. Sicher ist aber: Wer traditionell geprägte Muslime in großer Zahl ins Land lässt und sie zugleich auf internationaler Ebene nicht selten demütigt, der hat die Garantie dafür, dass immer genug „Feinde“ verfügbar sind. Und zwar sowohl im eigenen Land als auch globalpolitisch.

Feinde aber helfen, eine Politik der Militarisierung im Außen und eine Aufblähung des Sicherheitsapparats im Inneren durchzusetzen. Immer ist dann irgendwo Zoff, geschehen Anschläge, formieren sich fremdenfeindliche „rechte“ Gegenbewegungen, so dass sich der Staat als Träger einer selbst ernannten „Mitte“ als Sheriff gegen beide randalierenden Gruppen — radikale Muslime und Neonazis — positionieren kann. Dies hilft auch, von wichtigen Problemen abzulenken, unter denen „Abendland“ wie „Morgenland“ noch immer schmerzlich leiden: vor allem die ungleiche Verteilung des Wohlstands, Ausbeutung und Krieg.

Jenseits von richtig und falsch

Selbstbewusst auftretende Muslime in Deutschland müssen uns nicht ängstigen, wenn wir uns unseres eigenen Standpunkts, unserer zutiefst als richtig erkannten Werte bewusst bleiben. Nur eine schwach verwurzelte Pflanze lässt sich vom Wind des gesellschaftlichen Wandels leicht umpusten. Aus einer Position innerer Stärke heraus können wir die Hand in Richtung der „Fremden“ ausstrecken, ohne zwischen Unterwerfung oder aggressiver Abwehr wählen zu müssen. Wir können uns informieren ohne Voreingenommenheit, uns nähern, ohne zu bedrängen, Toleranz geben und — wo nötig — auch einfordern.

Im Sinne der Worte des berühmten Sufi-Dichters Rumi:

„Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“


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Quellen und Anmerkungen:

Buchtipps:

Hamed Abdel-Samad: Der Islamische Faschismus. Eine Analyse. Droemer Verlag. 220 Seiten, € 9,99
Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Herder Verlag. 240 Seiten, € 12,99
André Ahmed Al Habib: Sufismus. Das mystische Herz des Islam. Verlag Hans-Jürgen Maurer. 306 Seiten, € 16,90

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